Pflegeausbildung in Europa: „Deutschland auf Geisterfahrt“!

Institutsdirektor kritisiert Kurzsichtigkeit deutscher Politiker

 

Köln, 3. Januar 2012. Der Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung e.V. (dip) in Köln, Prof. Frank Weidner, warnt vor Kurzsichtigkeit und Isolation der deutschen Politik bei der Frage der Zulassung zur Pflegeausbildung mit höherer Qualifikation. Deutsche Gesundheitspolitiker aus der Bundesregierung und der Opposition hatten sich zuvor unisono gegen die Absicht der EU-Kommission gestellt, europaweit einheitlich zwölf Jahre Allgemeinbildung als Zugangsvoraussetzung zur Pflegeausbildung festzulegen. In 24 der 27 EU-Mitgliedsstaaten gilt dies heute bereits, in Deutschland sind es bislang zehn Jahre. Die EU-Kommission hatte kurz vor Weihnachten einen entsprechenden Änderungsvorschlag der EU-Richtlinie 2005/36/EG vorgelegt.

 

Mit der Richtlinienänderung verfolgt die EU-Kommission Ziele wie die Vereinfachung gegenseitiger Anerkennungen von Berufsausbildungen, die Steigerung der beruflichen Mobilität sowie eine Modernisierung des Beruferechts. Neue berufliche Anforderungen für Krankenschwestern und Krankenpfleger sowie Hebammen in ganz Europa machen nach Auffassung der Kommission diese Anpassung der Qualifikation notwendig. Hierzulande sehen Politiker der Bundesregierung und der Opposition die Sache ganz anders. So sieht Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) keine Notwendigkeit, „weshalb nur noch Abiturienten Pfleger werden dürfen, es kommt viel mehr auf die soziale Kompetenz als auf ein oder zwei Jahre mehr in der Schulzeit an“. Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag pflichtet dem bei und schlägt vor, die Pflege besser gerecht zu bezahlen, als das Abitur für Pflegekräfte einzuführen. Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach meint, dass „für uns in der Richtlinie kein Gewinn zu sehen ist“. Insgesamt wird befürchtet, dass sich der Fachkräftemangel in der Pflege durch die Änderungen noch verstärken würde. Außerdem stehe die deutsche Pflege in Europa gut da.

 

Weidner kritisiert diese Haltungen: „Es ist schon erstaunlich, wie unkundig, kurzsichtig und auch überheblich deutsche Politiker auf diesen überfälligen Vorstoß der EU-Kommission reagieren.“ Er betont, dass der Pflegefachkräftemangel hierzulande viele Ursachen habe. So sei beispielsweise aufgrund verschiedener Gesetze und Regelungen in der Vergangenheit die Zahl der Ausbildungsplätze in der Pflege in Deutschland seit Jahren eher rückläufig und stagnierte zuletzt. Auch werde zu wenig für ältere Mitarbeiter in der Pflege getan, so dass ein Großteil früh aus dem Beruf ausscheidet. Weidner erinnerte daran, dass 2009 die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) noch die Pflegeausbildung in Deutschland für Hauptschüler geöffnet habe. Dies sei bekanntlich ohne nennenswerte Wirkung in Sachen Bekämpfung des Fachkräftemangels geblieben, sei aber mit erheblichem Imageschaden der bundesdeutschen Pflege in Europa einhergegangen. „Angesichts der jetzt auf dem Tisch liegenden Änderungsvorschläge der EU-Richtlinie muten die Positionen bundesdeutscher Gesundheitspolitiker wie eine Geisterfahrt auf der europäischen Zukunftsautobahn Pflege an“, so Weidner weiter.

 

Der Pflegewissenschaftler begrüßt hingegen, dass im Gegensatz zur Bundespolitik in den Bundesländern inzwischen andere Weichen gestellt werden. So sei förmlich ein Wettbewerb um die besten Modellstudiengänge in der Pflege entbrannt, mit denen eine Pflegeausbildung und ein Studium kombiniert werden kann. Weidner zählt inzwischen mehr als 30 solcher so genannten dualen Studiengänge und betont, dass dazu selbstverständlich der reguläre Hochschulzugang der Studierenden erforderlich ist. „Damit reagieren die Bundesländer schon auf den starken Qualifikationsdruck aus der Praxis“, sagt Weidner und hofft, dass diese Studiengänge nach der Modellphase in entsprechende Regelangebote überführt werden.

 

Der Direktor des dip weist auf Daten und Erfahrungen hin, die zeigen, dass der Pflegestandort Deutschland in Europa nach und nach seine Konkurrenzfähigkeit einbüße. So gingen seit Jahren trotz entgegengesetzter und mithin verzweifelter Bemühungen der Politik in Deutschland deutlich mehr Pflegefachkräfte ins benachbarte Ausland, als von dort aus nach hier kommen. „Deutschland ist offensichtlich jetzt schon unattraktiv für ausländische Pflegefachkräfte.“, sagt Weidner. Das liege auch an den hierzulande häufig sehr belastenden Arbeitsbedingungen in der Pflege, an der vergleichsweise niedrigen Bezahlung, am schlechten Image und bald dann auch an der nicht mehr wettbewerbsfähigen Qualifikation in Europa.

 

Auf der anderen Seite steigen bekanntlich die Anforderungen an verantwortliche Pflegefachkräfte immer weiter. „In den Krankenhäusern werden immer mehr Patienten in immer kürzerer Zeit von immer mehr Ärzten und zugleich immer weniger Pflegepersonal behandelt.“, so Weidner. Zugleich schreitet der medizinisch-technisch-pflegerische Fortschritt voran. In der stationären Altenpflege nimmt der Anteil schwer- und schwerstpflegebedürftiger Menschen insbesondere mit Demenz deutlich zu. Und in der häuslichen Pflege steigen die Ansprüche aller Beteiligten auch immer weiter. Studien aus dem Ausland legen die Vermutung nahe, dass die Qualität der Patientenversorgung nicht nur mit der Quantität des zur Verfügung stehenden Personals, sondern insbesondere auch mit dessen Qualifikation zusammenhängt. Weidner: „Und wenn beides nicht mit den Entwicklungen mithält, dann ist mittelfristig die pflegerische Versorgung der Bevölkerung massiv gefährdet.“

 

Weidner fordert zur Verbesserung der Situation der Pflege in Deutschland eine konzertierte Aktion von Politik, Verbänden, Einrichtungen und Gesellschaft, die die Qualifikation, die Arbeitsbedingungen, die Vergütung und das Image der Pflege gleichermaßen einbezieht. Dazu empfiehlt er dringend, die Zugangsvoraussetzungen für verantwortliche Pflegefachkräfte sukzessive auf europäisches Niveau anzuheben. Er betont aber auch, dass es im europäischen Ausland neben den entsprechend gut qualifizierten verantwortlichen Pflegefachkräften eine ganze Reihe weiterer zuarbeitender Pflegeberufe gibt, die zahlreiche Assistenz- und Unterstützungsaufgaben übernehmen. Auch in Europa sei es nicht so, dass jeder, der in der Pflege arbeitet, zuvor das Abitur gemacht haben müsse.

 

Das gemeinnützige Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (dip) ist ein Institut an der Katholischen Hochschule NRW (KatHO NRW) in Köln und betreibt einen weiteren Standort an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) bei Koblenz. Es beschäftigt rund 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

 

Kontakt: Elke Grabenhorst (Sekretariat), Tel: 0221/ 46861-30; dip@dip.de

(Veröffentlichung frei, Beleg erbeten)