Pflegethermometer 2003 - Repräsentative Erhebung zur Pflegepersonalsituation in der stationären Altenhilfe

"Druckkessel" Altenheim - Neue Studie belegt, dass 20.000 Pflegekräfte in diesem Jahr zusätzlich eingestellt werden müssen

 

Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (dip) hat in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe Metrik auch in diesem Jahr wieder eine repräsentative Frühjahrsbefragung zur Lage und Entwicklung der Pflegepersonalsituation in Deutschland durchgeführt. Das Pflege-Thermometer 2003 basiert auf den Daten und Einschätzungen von 613 Einrichtungen der stationären Altenhilfe in Deutschland.

 

Die repräsentative Studie kommt zu dem Ergebnis, dass das Pflegepersonal in den Altenheimen in Deutschland unter einen zunehmenden Druck gerät. Ursache dafür sind die vielfach erhöhten Anforderungen etwa durch die deutliche Zunahme von altersverwirrten Bewohnern und den Anstieg von medizinisch-pflegerischen Arbeiten durch therapeutische Weiterversorgungen nach frühzeitiger Krankenhausentlassung. Zugleich wachsen die Ansprüche von Bewohnern und ihren Angehörigen an die stationäre Versorgung. Ferner nehmen die Anforderungen administrativer Art durch mehr Bürokratie und neue Qualitätssicherungsmaßnahmen ebenfalls spürbar zu. Diese Mehrarbeit muss das Pflegepersonal bei stagnierenden bzw. abnehmenden Ressourcen leisten. Die Fachkraftquote (d.h. das Verhältnis von qualifiziertem Pflegepersonal zu nicht-qualifiziertem Personal), die in den Einrichtungen gesetzlich bestimmt bei 50% liegen muss, wird mitunter bereits unterschritten. Die Folgen sind Prozesse der Arbeitsverdichtung sowie die Zunahme von Überstunden, häufigere und längere Krankheitsausfälle unter dem Personal. So lässt sich auf der Grundlage der Studie berechnen, dass mehr als 9 Millionen Überstunden in den Einrichtungen der stationären Altenhilfe bislang angehäuft wurden. Dies entspricht mehr als 5.000 Vollzeitstellen. Die Altenheime werden so mehr und mehr zu Druckkesseln in denen der Druck stetig ansteigt.

 

Die Unterbringung von pflegebedürftigen alten Menschen in Pflegeheimen nimmt in Deutschland deutlich zu. Jedes Jahr müssen etwa 15.000 Bewohner zusätzlich aufgenommen werden mit steigender Tendenz. Pro Jahr werden deutschlandweit etwa 160 Altenhilfe-Einrichtungen neu gebaut und eröffnet. Mit mehr als 600.000 Bewohnern versorgen die insgesamt 9.100 Altenheime nun schon mehr als 30% der Pflegebedürftigen in Deutschland. Die Untersuchung weist aus, dass in diesem Jahr alleine 20.000 Pflegefachkräfte zusätzlich eingestellt werden müssen, um die neuen und offenen Stellen zu besetzen und die Überstunden abzubauen.

 

Die Qualität der Versorgung kann aufgrund der Untersuchung nur indirekt eingeschätzt werden. Die Befragten weisen auf die Fortschritte der Qualitätsentwicklung und die insgesamt gute Ausstattung der Altenheime hin. Insbesondere in den Bereich der Qualifizierung der Mitarbeiter investieren die Träger der Einrichtungen. So nimmt der Anteil und die Dauer von Fort- und Weiterbildungen in der Altenpflege im Vergleich zu vergangenen Jahren deutlich zu. Ganz offensichtlich reagieren die Altenheime mit einer Qualifizierungsoffensive auf die neuen Herausforderungen.

 

Wie schwer sich die Einrichtungen mit der Entwicklung und Umsetzung innovativer und qualitätssichernder Konzepte tun, ist eher ein erschreckendes Ergebnis der Studie. Der "Expertenstandard Dekubitusprophylaxe" (Vermeidung von Druckgeschwüren) ist drei Jahre nach der ersten Veröffentlichung zwar weithin bekannt, wird aber erst in jeder fünften Einrichtung umgesetzt. Auch wenn sich daraus noch keine konkreten Aussagen bezüglich der realen Versorgungsqualität in Sachen Dekubitusprophylaxe machen lassen, zeigt sich hier doch ein deutlicher und als typisch anzusehender Makel bezüglich der Qualitätsentwicklung. Die Vermeidung von Druckgeschwüren ist aufgrund der gravierenden Folgen für die Betroffenen und die Solidargemeinschaft sowie angesichts der heute bereits bekannten präventiv erfolgreichen Maßnahmen eine entscheidende Herausforderung, gleichsam ein Prüfstein für die Qualitätsentwicklung der stationären Altenpflege. So lässt sich schlussfolgern, dass es im Bereich der konzeptuellen Arbeit derzeit noch einen erheblichen Bedarf an qualitätsfördernden Maßnahmen gibt.

 

Die Studie weist ferner nach, dass die Zahl sowie die Qualifikation der Bewerber um offene Stellen abnimmt, obwohl die Bundesanstalt für Arbeit mehr als 27.000 Altenpflegekräfte als arbeitslos führt. Dies ist ein Indiz für die begrenzte Vermittelbarkeit der als arbeitslos gemeldeten Pflegefachkräfte, die häufig aufgrund körperlicher oder seelischer Beschwerden für die Arbeit im Altenheim nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Aufwand für die Personalakquisition in den Einrichtungen wächst entsprechend. So ruhen viele Hoffnungen laut den Untersuchungsergebnissen auf dem ab 1.8.2003 in Kraft tretenden bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildungsgesetz. Zukünftig wünschen sich die befragten Leitungskräfte der Einrichtungen vor allem eine Erhöhung der Ausbildungsqualität. Dabei sollen vor allem gerontopsychiatrische Fachkenntnisse vermittelt und dem Anstieg medizinisch-pflegerischer Versorgung Rechnung getragen werden. Auch die bessere Vorbereitung auf die Übernahme von Maßnahmen der Qualitätssicherung wird vorausgesetzt.

 

Die Befragten kritisieren letztlich die sich verschlechternden Rahmenbedingungen für die stationäre Altenhilfe. So werden die Möglichkeiten der pflegerischen Versorgung durch die im Pflegeversicherungsgesetz festgelegten Begriffe und Kriterien zunehmend begrenzt und entsprechen immer seltener den Bedürfnissen der Bewohner und ihrer Angehörigen. Die Pflegeversicherung leidet demnach unter verengten Pflegebegriffen, unangemessenen Pflegestufen und eingeschränkten Leistungskatalogen. Folgen daraus sind, dass ein menschenwürdiges Leben im Altenheim zusehends erschwert wird, der Anteil der Sozialhilfeempfänger unter den Pflegebedürftigen wieder ansteigt und eine Umverteilung der Kosten auf die Betroffenen selbst in unzumutbarer Weise voranschreitet. Insgesamt verschlechtern sich diese Rahmenbedingungen mit jedem Tag des Wartens auf eine angemessene Reform des Pflegeversicherungsgesetzes und der Finanzierungsgrundlagen und schnüren die Handlungsspielräume weiter ein.